Samstag, 8. März 2014

Protokoll einer optimierten Evakuierung

17.00 Uhr
Nach einem turbulenten Tag im Büro verlasse ich viel zu spät das Büro und fahre heim. Im Kopf jede Menge unerledigte Dinge, die mich daheim erwarten.

17.15 Uhr
Ich fahre den Nockherberg hoch und denke darüber nach, wie ich jetzt am besten den Rochenflügel im Kühlschrank zum Abendessen zubereite. Im Autoradio gibt es eine Meldung über eine gefundene Bombe in München. Ach, schon wieder eine denke ich mir. Plötzlich dämmert es mir, dass ist ja bei uns. An der nächsten Ampel reiße ich das Handy aus der Handtasche und rufe Herrn bushcook an: "Komm' sofort heim, wir haben eine Bombe!"

17.25 Uhr
Die erste Querstrasse, die zu unserem Haus führt ist mit einem Polizeifahrzeug abgesperrt. Die zweite Zufahrt ist eine sehr kleine Strasse, die von vorne bis hinten zugeparkt ist. Normalerweise stehen da höchstens fünf Autos. Ein nicht enden wollender Strom von Autos kommt mir entgegen, so viele begegnen mir da im ganzen Monat nicht. Tapfer und immer ausweichend kämpfe ich mich bis ans Ende vor. Nette Autofahrer versuchen mir klar zu machen, dass da vorne nichts mehr geht. Aber ich wohne da, kann das Haus schon sehen. Dem freundlichen Polizist am Strassenende erkläre ich, dass ich nicht weiterfahren will, ich will eigentlich nur parken und zeige auf das Haus und die vielen leeren Parkplätze davor. Er ist so nett und lässt mich durch. Vermutlich war ich das letzte Auto, das in das Gebiet einfahren durfte.

17.30 Uhr
Ich rufe Herrn bushcook, der schon auf dem Heimweg ist, über Handy an und empfehle ihm einen großen Bogen zu fahren, da alles abgeriegelt ist. Aus der kleinen Strasse kommt meine arme Nachbarin T. mit einem Berg von Einkäufen. Sie durfte nicht mehr weiterfahren und musste ihr Auto ziemlich weit weg parken. Wir beraten uns kurz, was wohl jetzt zu tun ist. Ich frage einen Polizisten, ob es sein kann, dass wir wegmüssen. Er meint, es könnte schon so kommen.

17.35 Uhr
T. und ich teilen uns auf, um erstmal festzustellen, welche Nachbarn überhaupt da sind. Ich gehe zuerst zu F., eine Familie mit drei kleinen Kindern. Die Mutter ist Taiwan-Chinesin und spricht wenig deutsch. Glücklicherweise ist ihr Ehemann da und ich erkläre ihm die Situation und dass es besser ist, wenn sie sich vorbereiten. Mittlerweile fährt die Polizei mit dem Megaphon durch die Strasse und fordert uns auf, die Häuser zu verlassen. Unser Haus steht zuweit weg von der Strasse, ich kann die Ansage nicht richtig hören und gehe wieder nach vorne, um mich mit T. zu beraten. Ich klingle bei W. einer älteren, alleinstehenden Dame, die nicht gut hört und NIE ihr Hörgerät trägt....

Dann geht es wieder zurück zu F. und sage Bescheid, dass sie die Kinder packen und gehen sollen. Im guten Vertrauen, dass das läuft, komme ich zurück zu W. Unterwegs treffe ich T., die ausgiebig mit der Putzfrau von G. diskutiert. Die Putzfrau hat eingesehen, dass jetzt Schluss ist mit Putzen und sie heimgeht. Dann fragt sie noch: "Und was mache ich mit den Meerschweinchen?" T., schon leicht genervt meint nur: "Stell' sie in den Keller, dann überleben sie die Druckwelle!"

Ich klingle mittlerweile Sturm bei W. und verfluche das Hörgerät. Endlich macht sie auf und ich kann ihr die Situation erklären. Ich soll erstmal reinkommen und dann rufen wir die Tochter an und dann dies und jenes usw. Gut, ich schalte um, auf klare Ansagen: "Frau W. sie ziehen jetzt Schuhe und die Jacke an, nehmen ihre Handtasche und wir gehen!!!" Das klappt glücklichweise reibungslos.

Herrn bushcook informiere ich erneut per Handy über die aktuelle Situation und bitte ihn mich an der Sammelstelle zu treffen. Der Plan war, zum Abendessen in ein Restaurant zu fahren, da wir sicher noch ein paar Stunden weg sein werden. Kurzzeitig hatte ich darüber nachgedacht, den Rochenflügel auch zu evakuieren und ihn irgendwo zuzubereiten. Dann musste er doch im Schutze des Kühlschranks zurückbleiben.

17.40 Uhr
W. und ich machen uns auf zum Sammelpunkt an einer benachbarten Grundschule. T. beschließt zu anderen Nachbarn zu gehen, die weiter oben wohnen und von der Evakuierung nicht betroffen sind. Vor der Türe treffen wir eine Polizistin und einen Polizisten und informieren sie über die Situation unserer Wohnanlage. Die meisten Nachbarn sind in Urlaub und wir auf dem Weg. Bei einem Haus sind wir noch unsicher und bitten die Polizei dort noch mal zu klingeln.

Das ganze Viertel ist wie ausgestorben. Kein Auto fährt, vor uns geht ein alter Mann ebenfalls Richtung Sammelstelle. Die Polizei ist in Zweier-Teams unterwegs, um alle Menschen zu informieren und ihnen zu helfen, die Häuser zu verlassen.

17.50 Uhr
Wir kommen an der Schule an, viele Krankenwagen kommen und fahren wieder ab. Sie bringen alte und kranke Menschen, die bettlägrig sind oder nicht gut laufen können. Bereits draußen im Schulhof sind alle Bänke voll mit Menschen. Uns ist es zu kalt, um draußen zu bleiben, wir wollen uns in der Schule aufhalten. Am Eingang werden wir registriert. Ich lerne, dass in Deutschland eine Evakuierung top organisiert, ordentlich strukturiert und mit doppeltem Durchschlag durchgeführt wird. Einen Durchschlag der ausgefüllten Karte dürfen wir behalten. Auch rückblickend betrachtet, kann ich sagen, dass die Teams von Polizei, Feuerwehr und Rettungskräften einen super Job gemacht haben. Alles lief sehr ruhig, kontrolliert und freundlich ab. Das gibt mir ein gutes Gefühl, dass unser Land auch in ernsten Situationen gut vorbereitet ist und auch den Schwächsten wird gut geholfen.

Wir laufen durch das Schulgebäude zu dem Klassenraum, der uns als Aufenthaltsraum genannt wurde. Auf den Bänken im Gang und in den Zimmern sind schon viele Menschen angekommen. Es fällt auf, dass es hauptsächlich ältere Menschen und Mütter mit vielen kleinen Kindern sind. Alle möglichen Sprachen schwirren durch den Raum. Wir nehmen Platz auf zwei kleinen Stühlchen, es ist eine Grundschule, und beobachten das ganze Geschehen rund um uns. Sogar Getränke werden uns angeboten. Vermutlich würde es auch etwas zu essen geben.

Menschen, die bettlägrig sind, werden in die Turnhalle gebracht. Ich bin ehrlich gesagt froh, dass mir auf jeden Fall eine Übernachtung unter solchen Umständen erspart bleiben würde. Im Ernstfall kämen wir immer bei Freunden unter und wenn gar nichts mehr geht, würden wir uns ein Hotelzimmer nehmen.

18.05 Uhr
Herr bushcook ist mit dem Auto vor der Schule angekommen. Er informiert mich über Handy und Frau W. und ich machen uns auf dem Weg zu ihm. An der Tür zur Schule geben wir ordentlich unseren Durchschlag wieder ab. Auch, wenn man wirklich bestens für uns gesorgt hat, bin ich froh, dass wir dort nicht bleiben müssen.

18.10 Uhr
Wir beraten uns kurz, wo wir zum Abendessen hinfahren. Ich schaue im Internet nach, welches unserer Lieblings-Restaurants überhaupt auf hat. Die Entscheidung fällt auf Shane's Restaurant und ich kann telefonisch noch schnell einen Tisch reservieren.

18.25 Uhr
Wir sind bei Barbara und Shane McMahon angekommen und es fühlt sich schon wieder wie ein Stückchen Normalität an. Auch wenn ich mir sage, es ist jetzt so, wie wenn man einfach ein Restaurant besucht, es ist doch anders. Barbara und Shane schauen uns mit großen Augen an und recherchieren gleich im Internet, wie der aktuelle Stand der Bombenentschärfung ist. Der Nachbartisch nimmt auch schon große Anteilnahme. Gemeinsam erinnern wir uns an die letzte "Aufreger-Bombe" in Schwabing, die schließlich enorme Schäden hinterlassen hat.

Frau W. telefoniert ausgiebig mit ihrer Tochter und versucht ihr klar zu machen, dass sie nicht losfahren muss, um sie zu holen. Plötzlich läuft unser Freund P. durch das Restaurant - er wohnt im Nachbarhaus und kommt öfters vorbei. Da gab es gleich das nächste große Hallo. Er beschloss, seine Frau zu holen und so hatten wir gemeinsam noch einen sehr netten und spontanen Abend.

Nach dem Service habe ich noch Shane in der Küche besucht, um mir Tipps zu holen, wie ich den Rochen von der Gräte schneide.

22.30 Uhr
Wir kommen wieder daheim an, alles ist so wie vorher. Der Verkehr läuft ruhig, sämtliche Einsatzfahrzeuge sind wie von Geisterhand verschwunden und die Parksituation hat sich beruhigt. Unsere Bombe konnte entschärft werden und hoffentlich laufen auch alle künftigen Einsätze so glimpflich ab. Und ich glaube Frau W. hatte einen wirklich schönen Abend.


"Bombiges Überraschungsmenü von Shane McMahon"

Und das schreibt die Presse:
http://www.sueddeutsche.de/muenchen/fliegerbombe-im-acker-wohngebiete-im-muenchner-osten-evakuiert-autobahn-gesperrt-1.1906413

6 Kommentare:

  1. Glück im Unglück und - unglaublich gut geschrieben!
    Liebe Grüße,
    Eva

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    1. Danke Dir, liebe Eva, es freut mich, dass Dir meine kleine Geschichte gefällt.

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  2. Was für eine Aufregung! Ich konnte vor Spannung kaum Luft holen während ich deinen Bericht gelesen habe... und dachte die ganze Zeit: hoffentlich passiert dem armen Meerschweinchen nix ;) Zum Glück habt ihr alles gut überstanden und das Überraschungsmenü sieht großartig aus.

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    1. Also die Meerschweinchen haben es gut überstanden und auch sonst ist alles wieder sehr ruhig :-)

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  3. Boah...das ist ja echt böse. Bin ich froh, dass ich in der tiefsten Provinz wohne. Allerdings hab ich hier nicht dia Auswahl zwischen mehreren Lieblingsrestaurants.
    Irgendwas ist immer!
    Liebe Grüße, Sandra

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    1. Genau, Du sagst es - irgendwas ist ja immer. In München gehören diese Bombenfunde schon zum Alltag. Es war diesmal das erste Mal, dass wir unmittelbar betroffen waren.

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